Man könnte sich vorstellen, einem Autisten ist es nicht möglich, Glück zu erfahren. Er hat schlimme Erfahrungen mit seinen Wahrnehmungen, die ihm Qual und Hass und Traurigkeit bringen können, ohne Zweifel kann der Autismus eine schreckliche Krankheit sein, die innerlich bohrend, den Menschen verzweifeln lassen kann. Andererseits können Autisten besondere Begabungen haben, für die man sie auch beneiden kann. Ich erinnere mich noch gut an die Zeit, als ich noch nicht fähig war, Buchstaben zu erkennen, weil  mein Sehen so katastrophal schlecht war – immer bewegten sich Linien und undurchsichtige Wolken durch das Bild und und im Vordergrund und Hintergrund gab es ständigen Wechsel. Sehr schlecht ertragen konnte ich das und ich zweifelte oft, ob ich die Realität überhaupt erfassen kann. Immer musste ich Misstrauen haben, ob ich das Wahre überhaupt sehen kann oder ob es nur furchtbare Täuschungen sind, die ich mit meinen Augen erkennen kann. Nervig und belastend war das Sehen, aber auch das Hören. Viele Höreindrücke erlebte ich nur als großen Stress und kaum zu ertragen. Andererseits kann ich Personen, die in einem anderen Zimmer oder auf der Straße reden, ganz gut hören. Das kann störend sein, aber auch mehr Erfahrungen  geben, als es anderen  möglich ist. Die warme Stimme, mit der mir vorgelesen wird, lässt alle Nebengeräusche vergessen und ich nehme alles ganz tief auf und habe es in meinem Kopf. Mit dem Hören habe ich heute wenig Probleme. Auch das Sehen hat sich komplett verändert seit meiner Kindheit. Heute kann ich klar sehen. Und das bedeutet mir natürlich unendlich viel. Ich kann ohne Störung viel sehen und beobachten, die Gesichter sind nicht mehr verzerrt. Gut kann ich dem Anderen in die Augen schauen und dieses Reden mit den Augen kann ich sehr gut und ahne das, was der Andere fühlt und denkt, auch das ist Kommunikation. Richtig nahe kann mir jemand schon dadurch sein. Das Lesen macht mich reich. Neue Welten konnte ich betreten, sie wurden in mir lebendig und mehr und mehr drängt es mich, Neues und noch Fremdes zu erobern. In der richtig guten Lage bin ich, kurz auf die Seite in einem Buch zu schauen und den Inhalt dann zu wissen. Das liebe ich auch  besonders beim Lesen von Gedichten. In kurzer Form ist intensiv gestaltet, was erkennbar werden soll und das oft in so schöner Sprache und einem Rhythmus, der mich mitnimmt. Das ist für mich wirklich eine tiefe Quelle von beeindruckenden Erfahrungen. Über alles Gelesene kann ich viel nachdenken und das bereichert mich sehr. Was ich mit meinen Augen auch gut erreichen kann, ist eine Tür aufzumachen in die Welt der Kunst, für mich spannend und fesselnd und oft glücklich machend. Leicht kann ich in meinen vielen Büchern eine graue Zone der Unsicherheit überwinden und intensive Begegnungen mit mich anregenden Kunstwerken haben, über die ich dann auch noch lesen kann. Ganz viel bedeutet mir das und macht mich dankbar. Oft war ich natürlich auch schon in Museen – aber das ermöglicht nicht immer einen ungestörten Zugang zu den Bildern. Manchmal steht man in einer großen Gruppe von interessierten Besuchern und jedes kleine Gespräch oder Geräusch muss ich mithören und das nimmt mir das direkte Begegnen mit dem Bild in der Intensität, die mich erfasst und oft tief bewegt. Natürlich beobachte ich dann auch die Menschen um mich herum und die geben mir auch viel Denkanstöße, aber zum ergreifenden Begegnen mit den Bildern sind sie mir eine Ablenkung, die ich kaum restlos ausblenden kann. Wenn ich zuhause ein Bild vor mir habe, kann ich es immer wieder kurz anschauen. Viele Gedanken kommen mir dann und das Eintauchen in das Bild mit allem, was  es an vielfältigen Aussagen haben kann, ist mir eine tiefe Freude. Ich habe auch ganz deutlich besondere Vorlieben für den einen oder anderen Künstler. Wenn dann in meinem Zimmer diese geliebten Bilder hängen, dann ist das für mich jeden Tag Stärkung und Ertasten der Wirklichkeit, die mir erdenklich viel zu sagen hat. Ich bin mir sicher, viel Stütze gibt mir das auch, den Autismus zu ertragen. Reich  macht auch, mit dem Hören der Musik, die man liebt, das zu erleben, was Mut und Sicherheit und Wohlgefühl und seelische Kraft bedeutet. Für mich ist das die klassische Musik, mit der ich von klein auf umgeben war.  Sehr viel Musik gab es in unserer Familie immer, im Hören und im Ausüben. Ganz eindeutig liebte ich schon als sehr kleines Kind die Musik von Johann Sebastian Bach. Besonders zieht mich Bach ganz intensiv in die reiche Welt der Musik. Viel Leiden, so fühlte ich, nimmt mir seine Musik. Ich erinnere mich, dass man das klug erkannte und ich immer viel Musik von Bach hören durfte. Das half mir, den Autismus in den Hintergrund zu drängen. Ich fühlte mich in einer Welt der Harmonien und der starken Gewissheiten, die in mir ein befreiendes Erwachen aus meinem Chaos der Wahrnehmungen bewirkte. Eine richtig greuliche Autistenexistenz veränderte sich echt zum erträglichen Leben mit Freude und Harmonie, ich konnte ahnen, was Mut sein könnte. Wie fantastisch das war, habe ich heute noch in meiner Erinnerung. Mit Musik bin ich weiter aufgewachsen, viele Komponisten habe ich kennen gelernt und habe mich auch mit ihnen beschäftigt und ihre Biographien in mich aufgenommen. Oft hat mich sehr beeindruckt, dass bei ihnen auch das Leidenmüssen  durch Krankheiten, Tod oder schlimme Umstände das Leben zu einem Kampf machen konnte. Nicht nur Autismus kann eine schwere Last sein, es gibt viele Menschen in allen Bereichen, die auch viel - aus unterschiedlichen Gründen - auszuhalten haben. Noch vieles andere kann den Autismus leichter machen, ich gehe leidenschaftlich gerne hinaus in die Natur, wo ich immer viel wahrnehmen kann und schon die Bewegung  erleichtert mir, den Körper sicher zu spüren.  Ich zehre intensiv an Begegnungen mit Menschen und dem Erleben von Austausch und gegenseitigem Verstehen. Gerne lasse ich mich darauf ein, was der andere aus seinem Leben offen  mitteilen kann und sehe, autistische Einsamkeit und Isolation kann ich überwinden. Viele Autisten können sehr gut andere Menschen erfühlen und sind dadurch fähig, ihnen auch adäquat zu antworten. Das gibt ja auch viel Sinn für uns. Kontakte mit in dieser Weise wärmendem Vertrauen sind für mich Höhepunkte.Die Möglichkeit, Freude am Leben zu haben, gibt es für mich natürlich auch noch in vielen anderen Situationen, für einen Autisten mit anderen Erfahrungen als meine, natürlich auch. Aber das Allerwichtigste und Allerschönste für mich ist – und das geht wohl jedem Menschen so – ich fühle mich verstanden. Wie dankbar muss man sein, wenn man das ganz große Glück hat, geliebt, beschützt, wahrgenommen, akzeptiert und geachtet und kompetent begleitet zu sein. Das ist urecht tief ganz klar in uns. Und das Erlebte auch weitergeben zu können, gibt wieder viel Harmonie. Klar, zum Frieden machenden Zusammenleben können erwachte Autisten viel beitragen und das tut uns gut. Auch das beantwortet die Frage: Ja, ein Autist kann auch glücklich sein. Ich glaube, wir Autisten haben viele Möglichkeiten, glücklich zu sein, jeder natürlich auf seine Weise. Lutz Bayer